Systematische Theologie
print

Sprachumschaltung

Navigationspfad


Inhaltsbereich

Troeltsch-Forschungsstelle

Theologie und Kulturwissenschaft. Eine Einführung in das Werk von Ernst Troeltsch

etg-troeltschErnst Troeltsch ist ein klassischer Diagnostiker der modernen Kultur. Sein weit gespanntes Werk umfaßt Schriften zur Theologie und Philosophie, Kulturgeschichte und Politik. Als Theologe in Heidelberg und als Philosoph in Berlin überschritt Troeltsch Grenzen überkommener Disziplinen. Er wollte die Fundamente einer historischen Kulturwissenschaft legen, die aus der Analyse der modernen Gesellschaft normative Orientierungen für das aktuelle Handeln gewinnen sollte.

Der 1865 geborene Ernst Troeltsch begann seine Publikationstätigkeit als protestantischer Theologe. Seine umfassenden kulturwissenschaftlichen Fragestellungen erwuchsen aus den Problemen einer modernen historisch-kritischen Theologie. Eine kritische Theologie, die die Denkrevolutionen der Neuzeit ernst nahm, mußte christliche Geltungsansprüche auf neuen Wegen begründen. Troeltsch wollte die christliche Überlieferung ohne jede dogmatische Einschränkung dem kritischen geschichtlichen Blick freigeben. Durch radikale Historisierung wollte er zugleich ihre bleibende Gegenwartsbedeutung erweisen. Sein Werk ist von der Überzeugung geprägt, daß das Christentum in der europäisch-amerikanischen Kultur einen unverzichtbaren Garanten der Freiheit des einzelnen gegenüber allen freiheitsbedrohenden Tendenzen der Moderne darstelle.

Um die besondere Signatur der Moderne zu erfassen, erforschte Troeltsch die religiösen Triebkräfte in der Entstehung der modernen Kultur. Er fragte nach der Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt - so der Titel eines bekannten Vortrages vor dem deutschen Historikertag 1906 - und leuchtete in seinen Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen die je besonderer Kulturbedeutung der unterschiedlichen christlichen Konfessionen und ihrer Ethiken aus. Sensibilisiert für die Brüche und Widersprüche der modernen Gesellschaft zeichnete er ein Bild der Gegenwart, in dem die Krisenerfahrungen der Jahrhundertwende prägend waren. Zweckrationale Technik, kapitalistische Ökonomie und Bürokratisierung des Politischen wurden von ihm als Beschränkungen der Freiheit des Einzelnen diagnostiziert. In der Konsequenz seiner historisch-soziologischen Analysen hielt Troeltsch die Prozesse wachsender Pluralisierung zwar für unwiderruflich. Aber er suchte der Mannigfaltigkeit konkurrierender Wertorientierungen nach ethischen Grundüberzeugungen, die dem spannungsvollen Verhältnis von Freiheit des Einzelnen und politischer Ordnung eine neue Gestalt geben sollten. In zahlreichen Studien über den Historismus und seine Probleme wollte er praxisbezogen individualisierende Universalgeschichte und naturrechtliche Geltungsproblematik ethischer Normen miteinander vermitteln und eine moderne Kultursynthese formulieren. Mit dem Konzept einer europäischen Kultursynthese hatte Troeltsch einen maßgeblichen Anteil an der geistigen Begründung der parlamentarischen Demokratie von Weimar. Auch in den politischen Bezügen führt sein Werk ins Zentrum der Auseinandersetzungen um die Kulturbedeutung der historischen Kulturwissenschaften.

Eine Gesamtausgabe der Schriften von Ernst Troeltsch bildet seit langem ein Desiderat. Troeltsch selbst hatte 1912 bis 1922 drei Bände gesammelte Schriften veröffentlicht. Nach seinem Tode im Februar 1923 gab Hans Baron noch einen vierten Band und verschiedene Sammlungen von Troeltschs politischen und historischen Schriften heraus, die bisher die Grundlage der Rezeption bildeten. Doch bieten die alten Leseausgaben nur einen Ausschnitt aus dem weit verstreut publizierten Werk und präsentieren Troeltschs Texte häufig nur in einer gekürzten, von fremder Hand überarbeiteten Fassung. Deshalb wird die neue Gesamtausgabe historisch-kritischen Grundsätzen folgen und erstmals alle von Troeltsch im Druck veröffentlichten Texte in einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden kritischen Gestalt zugänglich machen. Troeltschs Nachlaß ist weitgehend vernichtet worden. Doch sind einige Handexemplare von Troeltschs Schriften überliefert, in denen Troeltsch zahlreiche Korrekturen und Ergänzungen notiert hatte. Die Gesamtausgabe wird neben den verschiedenen gedruckten Fassungen eines Textes auch diese handschriftlichen Marginalien dokumentieren. Darüber hinaus enthält sie die Diktate Troeltschs zu seinen Heidelberger theologischen Vorlesungen sowie die parlamentarischen Reden und Voten, die er 1910 bis 1914 als Vertreter der Heidelberger Universität in der Badischen Ersten Kammer sowie 1919 als Abgeordneter der Deutschen Demokratischen Partei bzw. als Unterstaatssekretär im Kultusministerium in der preußischen Nationalversammlung hielt. Die historisch-kritische Ausgabe wird die Briefe Ernst Troeltschs zugänglich machen, von denen bisher nur ein kleiner Teil gedruckt vorliegt. Sie enthält schließlich seine akademischen Gutachten und die von ihm verfaßten gelehrtenpolitischen Aufrufe.

Die Ernst Troeltsch. Kritische Gesamtausgabe wird gemeinsam von Theologen und Historikern herausgegeben. Sie soll das Werk eines protestantischen Intellektuellen der klassischen Moderne erschließen helfen, der in sehr unterschiedlichen disziplinären Diskussionszusammenhängen eine breite Wirksamkeit entfaltet hat. Mit der kritischen Edition seines Werkes verbindet sich die Hoffnung, die innere Einheit der historischen Kulturwissenschaften zu fördern. Es werden Texte des frühen 20. Jahrhunderts neu zugänglich gemacht, die auch in den Selbstverständigungsdebatten des 21. Jahrhunderts orientierende Kraft entfalten können.